Schwache Nerven

„Weiß ich den Weg auch nicht,
du weißt ihn wohl,
das macht mich ruhig
und friedevoll…“

Diesen schönen Vers aus einem alten Kirchenlied lehrte mich meine vor zwei Jahren verstorbene Freundin und Glaubensschwester Hannah, die entgegen aller ärztlichen Prognosen bei schwerer MS ein gesegnetes Alter von 84 Jahren erreichte. Trotz eines wirklich harten Lebens strahlte sie bis zum Ende eine gottgegebene Gelassenheit aus, die ermunternd und heilend auf ihre Mitmenschen wirkte. Für mich war ihr Gottvertrauen und diese Eigenschaft freudiger Zuversicht angesichts äußerst widriger Lebensumstände eine Geistesgabe zu ihrer eigenen Stärkung und zum Nutzen der Gemeinschaft. Eine von mehreren Geistesgaben, um die ich noch betend ringe. Denn im Gegensatz zu Hannahs Nerven, sind meine Nerven bei größeren Belastungen schnell mal „überreizt“.  Obwohl mir das missfällt und ich es ändern möchte, ist es für meinen Beruf als Psychotherapeutin eigentlich gar nicht so schlecht. Immerhin leidet ein Großteil der Patienten unter schwachen Nerven – sei es typbedingt, anlassbezogen, reaktiv oder im Zusammenhang mit einer körperlichen oder seelischen Erkrankung –  und man kann sich besser in Patienten hineinversetzen, die Druck schlecht aushalten können, wenn man aus eigenem Erleben weiß,  wie es sich anfühlt, wenn die Nerven blank liegen und Gefühle einen überwältigen.

Wenn die inneren und äußeren Rahmenbedingungen überwiegend stimmen, also in weitgehend stressfreien Zeiten, funktioniert das Nervenkostüm der meisten Menschen –  also nicht nur bei einem ausgeglichenen Temperament, sondern auch bei einem hitzigen Temperament –  noch völlig normal. Dann bringen einen alltägliche Probleme nicht so leicht aus der Ruhe. Aber je mehr  Probleme auftreten, also je größer der Druck wird, desto weniger Kontrolle haben nervenschwache  Betroffene über ihre Emotionen. Dann kann schon ein kleiner Anlass das Fass der Emotionen zum Überlaufen bringen und die Tränen fließen oder Wut und Aggressionen bahnen sich einen Weg und sind kaum noch zu kontrollieren. Und wenn der vom Unterbewusstsein subjektiv erlebte Druck besonders groß wird, dann kommen auch noch andere nervliche Dysfunktionen hinzu wie z.B. Konzentrationsschwäche, Blackout , Wahrnehmungsverzerrungen, psychotische Symptome und psychosomatische Beschwerden, insbesondere  Dysfunktionen von Magen und Rückenmuskulatur, körperliche Missempfindungen, Schlafanomalien und erhöhte Schmerzwahrnehmung.

Da diese Prozesse willentlich, z.B. mit Disziplin, leider nicht zu steuern sind, bleiben gegen ein schwaches Nervenkostüm (neben der psychotherapeutischen und medikamentösen Therapie einer eventuell bestehenden Haupterkrankung wie ADHS, Posttraumatische Belastungsstörung, Depressionen, Angststörungen  usw.) nur palliative (also vorbeugende) Methoden wie ausreichend Schlaf und Pausen, positive Aktivitäten zum Ausgleich (Sport, Hobbys, Sozialkontakte), regelmäßige Erholungsurlaube und Entspannungsübungen, sowie Stressbekämpfung und -vermeidung.

Das Problem ist jedoch, dass sich Stress nicht immer bekämpfen oder vermeiden lässt. Darum hören wir ja auch in dem wohl bekanntesten und verbreitetstem Therapiesatz aller Zeiten unter anderem: „Gott, gib mir Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,….“

Z.B. hätte ich mit nichts auf der Welt verhindern können, meinen bisher schönsten Arbeitsplatz in der Bernsteinklinik Binz auf Rügen zu verlieren, weil ich auf deren Schließung keinerlei Einfluss hatte.
Z.B. konnte Hannah nichts daran ändern, als Waisenkind ohne familiären Halt und noch dazu schwer krank durchs Leben gehen zu müssen. Z.B. hatte mein engster Vertrauter keinen Einfluss darauf, dass sein Geschäftspartner wegen eines schweren Herzleidens komplett ausfiel und er in kürzester Zeit allein ein umfangreiches Projekt fertigstellen musste. Z.B. hat die mir bekannte Asylbewerberin keinen Einfluss darauf gehabt, dass man ihr im Heimatland zu Unrecht Ehebruch unterstellte und sie steinigen wollte und die deutschen Behörden ihr über quälende Wartezeiten hinweg kein Asylrecht zugestehen wollen. Usw., usw..

Fazit: Stressvermeidung ist eine gute Strategie bei nervlicher Überreizung, die sich zwar in vielen Fällen, aber leider nicht in allen Lebenslagen anwenden lässt. Was man benötigt um ruhig zu bleiben, wenn sich Stressoren nicht vermeiden lassen, ist Gelassenheit und Zuversicht, wie sie meine Freundin Hannah in ihrem christlichen Glauben gefunden hatte. Aber genau das fehlt vielen Betroffenen leider noch ebenso wie mir in Krisenzeiten. Wer schwache Nerven hat, kann nicht gelassen bleiben und wer Gelassenheit hat, hat keine schwachen Nerven.

Aus diesem Grund gleicht der berühmte o.g.  Therapiesatz einem Gebet. Es wird Gott darum gebeten, einem Gelassenheit zu schenken, weil man Gelassenheit nur sehr begrenzt (z.B. durch Methoden der kognitiven Umstrukturierung oder mittels Selbstsuggestionen)  selbst produzieren kann, wenn man nicht zufällig zu den Menschen gehört, die von Natur aus Nerven wie Drahtseile oder eine stoische Ruhe geerbt haben .

Und was die palliativen Methoden betrifft, so gilt das gleiche. Wenn man gelassen ist, dann kann man auch bei größerem Druck eine Pause (z.B. einen Spaziergang, eine Entspannungsübung, einen Abend mit Freunden, eine sportliche Betätigung usw.)  oder einen Urlaub genießen und dabei auftanken oder in der vorübergehenden Sicherheit  eines Asylbewerberheims regenerieren. Fehlt einem jedoch typbedingt Gelassenheit, dann denkt man während der Pause oder im Urlaub unentwegt an die ganzen ungelösten Probleme und Belastungen und Anforderungen, die noch zu erledigen sind – und im Moment grade liegen bleiben und sich auftürmen – und findet einfach keine Erholung und Freude. Ebenso bessert sich der nervliche Zustand eines Asylbewerbers kaum, wenn er sich unentwegt über eine drohende Abschiebung sorgt.

Was in solch belastenden Situationen unterm Strich also bleibt, ist Gottvertrauen. Das Vertrauen darauf, dass Gott einen Plan für uns hat, Wege aus der Aussichtslosigkeit zeigt, durch schwierige Zeiten durchhilft. Dass Gott in den Schwachen mächtig ist und einem Tag für Tag die Kraft schenkt, die man benötigt. Und dass er notfalls auch ein Wunder geschehen lässt.

Ich bete deshalb häufig die Psalmen, weine mich bei Gott aus, klage über meine Umstände und finde Zuspruch, dass ER mir helfen wird. Und so habe ich tatsächlich schon viele Gebetsantworten erleben dürfen, die man als Wunder bezeichnen kann, weil etwas Übernatürliches passiert ist.

Und wenn ich eines Tages merke, dass ich auch in turbulenteren Zeiten gegen mein ursprüngliches Naturell ruhig und zuversichtlich bleibe, wird es für mich ein weiteres Wunder sein. Das Zeichen, eine weitere Segnung, eine weitere Heilung meiner Seele von Gott empfangen zu haben.

Ich wünsche mir für den Leser und bete dafür, dass er sich in Bedrängnis ebenfalls vertrauensvoll an unseren himmlischen Vater wendet und darauf vertraut, dass Jesus ihn an Körper, Geist und Seele heilen wird und dass der Heilige Geist ihm den Weg aus den Nöten weist.  Und dass der Leser, dessen Nerven mal mit ihm durchgehen, sich nicht selbst verurteilt,  sondern darauf vertraut, dass Gott bei einem wiedergeborenen Christen nach und nach alles neu macht, was für die Jesusnachfolge wichtig ist. Falls es nötig ist, auch das Nervenkostüm.

Und bis es soweit ist, dürfen alle Betroffenen ihre Umgebung bisweilen um Entschuldigung für ihre hin und wieder überreizten Nerven bitten: „Bitte habt Geduld, Gott arbeitet noch an mir.“

Denn wer selber starke Nerven hat, soll möglicherweise durch die Nervenschwäche seiner Mitmenschen  Langmut und Nächstenliebe lernen oder aber zum Unterstützer und Tröster werden!

Dr. Tanja Christina Zilius, Fördermitglied

Vorgelesen von: Katinka Atzrodt